Faustdick hinter den Toren: Zum Karriereende von Claudio Pizarro bei Werder Bremen (2024)

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Faustdick hinter den Toren: Zum Karriereende von Claudio Pizarro bei Werder Bremen (1)

Im Weserstadion ist das Flutlicht angegangen. Es ist der drittletzte Spieltag und Werder Bremen muss sich an diesem schwülen Dienstagabend mit den Bayern messen. Unten auf dem Rasen bereiten sich die Fußballer vor, auch Claudio Pizarro, von dem diese Geschichte handeln soll.

Der Peruaner war lange nicht mehr im Kader. Wegen einer Oberschenkelverletzung hatte der Stürmer sämtliche Spiele nach dem Wiederbeginn der Liga verpasst. Jetzt ist er zurück, ein 41-Jähriger inmitten all dieser jungen Fußballer.

Pizarro lacht mit Maxi Eggestein über eine misslungene Ballannahme, er albert mit Thomas Müller an der Mittellinie. Sein geliebtes Stadion, seine Bremer, seine Bayern, ein perfekter Rasen und der Ball. Das ist die Fußballwelt von Claudio Pizarro. Ein paar Spiele sind es zu diesem Zeitpunkt noch. Dann ist seine Karriere als Fußballer vorbei.

Foto: Elisenda Roig/ Bongarts/Getty Images

21 Jahre ist es her, dass Pizarros Zeit in der Bundesliga begann. 1999 wechselte er vom peruanischen Traditionsklub Allianza Lima zu Werder. Inklusive einer Ausleihe von Chelsea 2009 sollten noch vier weitere Transfers zu den Bremern folgen, zuletzt 2018. Seine erfolgreichsten Jahre hatte Pizarro bei den Bayern, für die er von 2001 bis 2007 und 2012 bis 2015 spielte. Fünf DFB-Pokaltitel, sechs Deutsche Meisterschaften und die Champions League gewann er mit den Münchnern. Zu seiner Vita gehört auch ein unglückliches Jahr beim 1. FC Köln, mit dem er 2018 in die Zweite Liga abstieg.

Köln könnte nun auch die Endstation seiner Laufbahn werden. Gewinnt Werderam Samstag nichtgegen den FC und bekommt zeitgleich Hilfe von Union Berlin gegen Fortuna Düsseldorf, steigt Bremen ab. Dann würden die Pizarro-Jahre der Bundesliga enden. Ansonsten bleiben zwei Relegationsspiele.

"Es gibt in der 120-jährigen Geschichte von Werder Bremen keinen wichtigeren Spieler als Claudio Pizarro", sagt Jürgen Born, ehemaliger Vorstandsvorsitzender des Klubs, dem SPIEGEL. Der 79-Jährige hat eine besondere Beziehung zu Pizarro. Born war es, der - damals noch als Chef der Deutschen Bank in Paraguay, Uruguay und Brasilien - auf den jungen Stürmer aufmerksam wurde.

Mit 109 Bundesliga-Treffern ist der Angreifer Rekordtorschütze von Werder. Seine Tore haben Bremen goldene Zeiten beschert. "Mit seinem Verkauf 2001 zu den Bayern für 16 Millionen Mark haben wir aber auch die erfolgreichste Phase des Vereins vorbereitet", sagt Born. Für Werder war das damals eine außergewöhnliche Summe.

"Er hat andere durch seine Klasse strahlen lassen"

Wer mehr über den Fußballer Pizarro erfahren will, der muss mit Thomas Schaaf sprechen. Keiner hat ihn länger trainiert. Unter Schaaf spielte Pizarro 220 Mal für Werder. "Claudio hat von Anfang an einen Plan verfolgt. Als er gemerkt hat, dass er etwas erreichen kann, hat er die nächste Stufe genommen und sich immer weiterentwickelt. Ich musste nicht viel nachhelfen", sagt Schaaf dem SPIEGEL. "Sein Schuss, sein Kopfballspiel, seine Bewegungen, seine herausragende Technik. Er ist ein kompletter Spieler." Für Schaaf ist aber auch die für einen Stürmer ungewöhnliche Selbstlosigkeit Teil des Gesamtkunstwerks: "Er hat mit Freude andere Spieler in Szene gesetzt. Er hat sie durch seine Klasse strahlen lassen, weil er das pure Spiel liebt und sich daran selbst begeistern konnte."

"Sein Schuss, sein Kopfballspiel, seine Bewegungen, seine herausragende Technik. Er ist ein kompletter Spieler"

Thomas Schaaf über Claudio Pizarro

Der junge Pizarro bei seiner ersten Station in Bremen strahlte eben das aus: Liebe zum Spiel. Er verkörperte damit auch das, was Werder damals gefehlt hatte. Der Klub hatte triste Jahre hinter sich, die Trainer kamen und gingen, de Mos, Dörner, Sidka, Magath. Dann kam Schaaf, dann kam Pizarro, und mit ihnen irgendwann auch wieder die Leichtigkeit ins Weserstadion. Mit Ailton bildete Pizarro ein in Bremen bis heute legendäres Sturmduo, der Boulevard nannte es "PizzaToni", die beiden harmonierten miteinander, schossen Tore, oft sehr schöne.

Mitunter auch welche der Marke Weltklasse.

In seiner zweiten Bremer Saison gelang Pizarro der vielleicht technisch anspruchsvollste Treffer seiner Karriere. Im Februar 2001, Bremen spielte daheim gegen Schalke, passte sein Teamkollege Mladen Krstajic hoch und weit in den Lauf von Pizarro. Der verrenkte im Sprint den Kopf, um den von hinten heranfliegenden Ball zu fixieren, dann fuhr er das rechte Bein aus, ließ den Ball auf die Fußinnenseite tropfen, und während der Ball kurz nach oben prallte, holte Pizarro in einer fließenden Bewegung aus und lupfte ihn mit dem zweiten Kontakt über den anstürmenden Keeper (in diesem Video zu sehen ab Minute 1:19). Ein Tor-Gemälde.

Pizarro ließ etliche Treffer folgen, die Fußballfans selbst dann genießen konnten, wenn sie gegen die eigene Mannschaft fielen. Er traf per Seitfallzieher und Fallrückzieher, er schoss Distanztore und war überragend im Kopfball. Und dann war da, natürlich, eine Art Pizarro-Trademark: das Hackentor. Dabei wählt er einen seiner liebsten Laufwege, von der Strafraummitte hin zum ersten Pfosten, um dort eine Flanke zu verwerten, indem er den Ball per Hacke am Torwart vorbeibrachte.

Pizarro entwuchs Werder Bremen schnell, nach zwei Spielzeiten schon ging er zu den Bayern. Gemessen an seinem Talent war ein Wechsel nach München nur logisch. Gemessen an seinem Talent war das, was dort folgte, aber vielleicht sogar: zu wenig.

Ottmar Hitzfeld, der Pizarro zwischen 2001 und 2004 beim FC Bayern trainierte, sagt heute über seinen ehemaligen Stürmer, er habe "nicht die Disziplin gezeigt, die es bei den Bayern braucht. In München wird jeder Schritt aus dem Haus beobachtet. Das hat er unterschätzt. Aber auch in der Kabine war er mir vor den Spielen zu locker. Das habe ich nie gerne gesehen", sagt Hitzfeld dem SPIEGEL.

"Ihm haben die zehn Prozent Willen, Verbissenheit und Aggressivität gefehlt"

Ottmar Hitzfeld über Claudio Pizarro

An Giovane Elber sei der Peruaner damals aber auch deshalb nicht vorbeigekommen, weil ihm "die zehn Prozent Willen, Verbissenheit und Aggressivität" gefehlt hätten, sagt Hitzfeld. Vielleicht erklärt das, weshalb ein Stürmer wie Pizarro mit solch außergewöhnlicher Auffassungsgabe, Technik und Torinstinkt nicht noch mehr große Titel gewonnen hat. Warum er vom FC Chelsea, bei dem er sich nicht durchsetzen konnte, nach Bremen zurückkehrte, statt es bei einem Klub der Kategorie zwischen Chelsea und Werder zu versuchen.

Abseits des Platzes war Pizarro nicht immer unumstritten. 2009 war er in die Affäre um die Spielerberatungsagentur seines Managers Carlos Delgado verwickelt. Es ging um den Vorwurf der Steuerhinterziehung und der Geldwäsche gegen Delgado.

Kritik an sich versuchte Pizarro oftmals einfach wegzulächeln. Dieses Verschmitzte, Spitzbübische, das Pizarro auch jetzt noch anhaftet, diente ihm bisweilen als Abwehrmechanismus. Jene Affäre bestand er jedenfalls unbeschadet, ein paar Wochen später führte er Bremen mit einem Tor und einer Vorlage in Hamburg ins Finale des Uefa Cups (und fügte dem HSV damit eine von drei schmerzlichen Nordderby-Pleiten zu).

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"Claudio war immer in der Lage, alles Unangenehme von sich zu streifen", sagt Patrick Owomoyela dem SPIEGEL. Der ehemalige Abwehrspieler von Werder und Dortmund ist Pizarro oft begegnet - auf und neben dem Platz. "Er hat eine Gabe entwickelt, Stress besser als andere abzubauen. Sonst könnte er jetzt nicht noch mitspielen", sagt Owomoyela. Das habe viel mit Haltung zu tun.

Es ist spät geworden im Weserstadion beim Spiel der Bremer gegen die Bayern. Um kurz vor 23 Uhr verlässt Pizarro, der zwei Minuten vor Schluss tatsächlich noch eingewechselt wurde, das Stadion. Bremen hat verloren. Auf dem Weg zu seinem Auto stellt sich ihm ein Fan entgegen: "Steigt ihr jetzt ab?", fragt er. Pizarro hält inne. Selbst jetzt ist noch ein Anflug von Lächeln in seinem Gesicht zu erkennen: "Das kann sein, ja", sagt er zu dem Jungen. "Aber wir werden nicht sterben."

Einen besseren Abschied vom Profifußball als den drohenden Abstieg hätte man Pizarro dennoch gewünscht. So wird es ein stiller Abgang, übertönt vom sportlichen Niedergang seines Vereins. Pizarro droht auch ein persönlicher Negativrekord, er steht vor seiner ersten Saison in Europa, in der ihm keine Torbeteiligung gelingt. Das eine Spiel gegen Köln am Samstag bleibt ihm noch (15.30 Uhr, Liveticker SPIEGEL.de; TV: Sky). Vielleicht sogar noch die Relegation.

Was danach aus ihm wird? Offiziell ist das noch nicht entschieden. Es heißt aber, er werde Markenbotschafter beim FC Bayern. Wahrscheinlich wird er seinem Sport erhalten bleiben, er konnte sich ja schon als Spieler kaum von ihm lösen.

Pep Guardiola, der Pizarro einst in München trainierte, wurde kürzlich zu dessen anstehendem Abschied befragt. "Fußball verdient Menschen wie Claudio", lautete seine Antwort.

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